Die Sommerferien sind vorbei und der Arbeitsalltag drängt sich allmählich wieder in den Vordergrund. Umso wichtiger ist es, nicht alle Urlaubsroutinen einfach so über Bord zu werfen und stattdessen das gesunde Lesepensum beizubehalten. Da ihr wahrscheinlich eure Urlaubslektüre schon beendet habt, gibt es an dieser Stelle die DA.-Buchtipps.
Keine Sorge. Selbst wenn es sich um Belletristik handelt, ist der bebaute Raum – auf Gebäude- bzw. auf öffentlicher Ebene – essenzieller Akteur. Es geht um freiwillige und unfreiwillige Nachbarschaften, junge Heranwachsende, Verluste, Krieg, feministische Utopien und queere Stadterfahrungen. Viel Vergnügen.
Ebene 1: Das Wohnhochhaus
Karosh Taha – Beschreibung einer Krabbenwanderung
In Karosh Tahas Erstwerk dient ein Hochhaus als Kulisse für die Geschichte. Taha entschied sich für diesen Bautypus, da er mehrere Funktionen vereint: Das Hochhaus repräsentiert zum einen ein Viertel (Stadt in der Stadt) und setzt damit den Begriff der Nachbarschaft in einen neuen Kontext. Zum anderen lässt sich dieser Gebäudetypus in jede Stadt platzieren, sodass Lesende ihr eigenes inneres Bild der Räume kreieren, was die Geschichte nahbarer macht.
Klappentext
„Sanaa ist zweiundzwanzig. Sie studiert, hat einen Freund und einen Liebhaber, und sie hat Träume. Alles könnte gut sein, wäre da nicht die Realität, die sie immer wieder kneift, während sie träumt – kneift wie die Krabbe damals im Irak, als sie im Fluss badete. Die Realität, das sind: Sanaas Mutter Asija, die unter Depressionen leidet. Ihr Vater Nasser, der sich von seiner Familie entfremdet hat. Ihre Schwester Helin, wütend, orientierungslos. Und ihre Tante Khalida, die Tag für Tag Tabak rauchend auf dem Sofa der Familie sitzt und über alles wacht. Sanaa rebelliert gegen die Enge ihres Umfelds, ringt um Luft zum Atmen, um Freiheit. Doch sie kann der Verantwortung für ihre Familie nicht entfliehen. Also kümmert sie sich und versucht ihrer aller Wunden zu heilen. Bis plötzlich alles, was sie sich an Freiheit erkämpft hat, auf dem Spiel steht.“
Cemile Sahin – Alle Hunde sterben
Dieser Roman ist keine leichte Kost. Es geht um Folter, Gewalt und die Grausamkeiten des kurdisch-türkischen Konflikts. Camil Sahin erzählt dokumentarisch neun Geschichten von Menschen, die in einem Hochhaus in der Türkei im Exil leben. Sie sind jetzt Nachbar:innen und Kompliz:innen in einem konstanten Ausharren – ihrem fortwährenden Albtraum aus Folter und Gewalt. Am Leben halten sie die Erinnerungen an frühere Zeiten.
Klappentext
„Sie alle haben Folter, Gewalt und Verschleppung durch Einheiten der türkischen Armee und der Polizei erlebt. Darunter: Eine Mutter, die ihren toten Sohn auf einen Pick-up lädt. Ein Mann, der seine schlafende Tochter draußen ins Gebüsch legt, bevor er sein Haus anzündet. Eine Frau, die angekettet in einer Hundehütte gehalten wird. Während sie von ihrer Flucht berichten, holt sie der systematische Terror des türkischen Militärs wieder ein.“
Darko Cvijetić – Schindlers Lift
Im Roman von Darko Cvijetić bilden zwei Hochhäuser mit Schindler-Aufzügen den Mittelpunkt der Geschichte. Sie stehen stellvertretend für die einstige Einheit im ehemaligen Jugoslawien. Serb:innen, Bosniak:innen, Kroat:innen – Menschen mit verschiedenen Glaubensrichtungen lebten in den beiden Hochhäusern im bosnischen Prijedor zusammen, waren Nachbar:innen. Man half sich aus, war befreundet – bis der Jugoslawienkrieg sämtliche Verbundenheit zerstörte. Und so wird eine gemeinsame Geschichte plötzlich bedeutungslos. Cvijetić gelingt eine Erzählung, die sehr berührt und gleichzeitig die Absurdität und Grausamkeit des Krieges bildhaft darstellt.
Klappentext
„Im Jahr 1975, als sie bezogen wurden, rochen die zwei Hochhäuser noch. Das Rote hatte 13 Etagen. Und um das Unglück nicht zu beschwören, benannten die Einwohner die erste Etage in „Galerie“ um. Bevor sie zu den Hochhäusern des Todes wurden, feierte man hier gemeinsam Errungenschaften und Erfolge der Arbeiterklasse und übte sich in Solidarität. Denn dort wohnten Lehrerinnen und Ärzte neben Bergbauarbeitern, Bosniaken neben Serben, Kroaten… Dort wohnte eine verdichtete Vorstellung von Jugoslawien und des multikulturellen Bosniens. Die Aufzüge standen für die Anwohner als Zeichen der Urbanisierung und als Beweis des städtischen Lebens. 15 Jahre später begleiteten sie unerwünschte Mitbewohner zur Hinrichtung oder wurden sogar selbst zur Guillotine. Zusammen mit den Schornsteinen der umliegenden stillgelegten Fabriken bilden sie heute wie Grabmäler die Kulisse der kleinen bosnischen Stadt Prijedor und erinnern uns daran, wie eine einzigartige Welt durch den nationalistischen Terror besiegt wurde.
Ebene 2: Der öffentliche Raum
Charlotte Perkins Gilman – Herland
Es ist kaum zu glauben, aber dieser utopische Roman wurde 1915 von der feministischen Autorin Charlotte Perkins Gilman geschrieben. Bemerkenswert an dieser Erzählung ist, wie vielschichtig Perkins Gilman eine Gesellschaft beschreibt, die ohne Männer über viele Generationen hinweg existiert. Dabei geht es u.a. um die Aufhebung von Geschlechterrollen und die eigentliche Bedeutung der Carearbeit, die sich schließlich auch in der Nutzung des öffentlichen Raums widerspiegelt. Zum Vergleich: Im 19. Jahrhundert wurden Frauen aus dem öffentlichen Raum ausgeschlossen – sie sollten sich um den Haushalt und die Kinder kümmern.
Klappentext:
„In 1915, Charlotte Perkins Gilman – a feminist, futurist, and activist – published Herland, a story about an all-women utopian society hidden in a jungle. They shared all labor and child care equally and reproduced without men. For generations, they lived peacefully, communally, and happily-until three men barged in, disrupting the order.“
Erschienen in verschiedenen Verlagen. Am besten bestellt ihr das Buch in der Buchhandlung eures Vertrauens.
Özlem Özgül Dündar, Ronya Othmann, Mia Göhring, Lea Sauer – FLEXEN. Flâneusen* schreiben Städte
Ich war sehr auf das Buch gespannt, wurde aber letztlich ein klein wenig enttäuscht. Zugegeben, bei dem Titel habe ich einen stärkeren Bezug zur gebauten Umwelt erwartet. Allerdings stammt keine der Autor:innen aus einer Disziplin, die sich mit (öffentlichen) Räumen beschäftigt. Doch darin liegt auch die Stärke des Buches. Schließlich handelt es sich beim Flanieren um eine subjektive Erfahrung, die durch die einzelnen Geschichten neue Perspektiven auf unsere Städte und Räume einnehmen. Und so sind die Texte eine wichtige Dokumentation im Aufzeigen der Möglichkeiten von Stadtnutzung. Denn diese ist eben nicht für jeden Menschen selbstverständlich.
Klappentext
„Flex|en, das, – kein Pl.: 1. trennschleifen 2. biegen 3. Sex haben 4. das Variieren der Geschwindigkeit beim Rap 5. die Muskeln anspannen 6. seine Muskeln zur Schau stellen 7. Flâneuserie
In 30 verschiedenen Texten mit 30 verschiedenen Perspektiven auf Städte, alle geschrieben und erlebt von Frauen*, PoC oder queeren Menschen. Texte, die beweisen, dass das Flexen, die Flâneuserie endlich ernst genommen werden muss. Die Figuren in der Anthologie streifen durch Berlin, Paris, Jakarta, Istanbul und Mumbai. Sie erzählen uns u.a. davon, wie eine Frau mit Kinderwagen die Großstadt erlebt, eine Frau eine Großdemonstration in Dresden miterlebt, wie Flanieren in Indien schon Aktivismus bedeutet, wie sich die Geschichte in den Ort einschreibt und manchmal wird die Stadt sogar selbst zur Figur.“
Erschienen im Verbrecher Verlag.
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Transparenzhinweis: Alle Bücher wurden von der Autorin käuflich erworben.