Kultur

Eine getanzte Liebeserklärung an unsere Städte

Still aus dem Film Closer | © Tom McKenzie

Es ist dieses Wohnzimmer, das meins oder Deins sein könnte. Die Couch ist an die Wand geschoben, der Teppich eingerollt. Die Hausschuhe wurden sorgfältig vor dem Tanzboden arrangiert. In weißen Strumpfhosen stehen Maria Kochetkova und Sebastian Kloborg da und blicken in die Kamera.

Wir alle haben uns irgendwie in unseren Wohnungen arrangiert. Und doch ist es die Sehnsucht, die uns momentan verzweifeln lässt. Die Sehnsucht nach dem Üblichen, nach Nähe, nach unseren Liebsten, aber auch nach all den Orten, die uns in Zeiten dieser Pandemie unzugänglich bleiben. Die eigene Wohnung wurde zu unserer Basis, unserer kleinen Stadt, die über den Tag hinweg ihre Funktion ändert: Während wir also im Homeoffice sitzen, die Schulbank drücken, auf der Yogamatte unser Work-out praktizieren, in der Bar mit Freundïnnen via Zoom anstoßen oder mit dem/der Partnerïn ein Theaterstück streamen, blicken wir zwischendurch aus dem Fenster und fragen uns: Wie fühlt sich die Stadt da draußen ohne uns an?

Still aus dem Film Closer | © Tom McKenzie
Auf einem Spielplatz vor dem 8 House | © Tom McKenzie
Still aus dem Film Closer | © Tom McKenzie
Nyhavn – die berühmte Sehenswürdigkeit ist menschenleer | © Tom McKenzie

Mit der Pandemie kam die Schließung zahlreicher Orte. Zurück bleiben die Künstlerïnnen und die Frage, wie sich das leere Stadtbild als Bühne nutzen ließe. Dem nachgegangen sind der dänische Filmemacher Tom McKenzie und die beiden Tänzerïnnen Maria Kochetkova und Sebastian Kloborg. Das Stück „Closer“, das Benjamin Millepied 2006 zur Musik von Philip Glass „Mad Rush“ (1979) choreografierte, stellt eine gespenstische und zugleich hoffnungsvolle Beschreibung der aktuellen Situation dar. Der Film zeigt eine traumähnliche Nachtwanderung der beiden Tänzerïnnen durch die verlassenen Straßen Kopenhagens. Mit flackernden Tönen und sanften gleichmäßigen Bewegungen tragen uns Kochetkova und Kloborg an Orte des Alltags, die durch ihre Verlassenheit plötzlich außergewöhnlich erscheinen.

Die Architektur der Stadt als ideale Kulisse für das Tanzstück | © Tom McKenzie
Still aus dem Film Closer | © Tom McKenzie
Für wen wen wird die Stadt noch beleuchtet? | © Tom McKenzie

In einfachen, weißen Kostümen tanzen die beiden ihren pas de deux aus dem Wohnzimmer heraus an Haltestellen, am Hafen, vor historischen Bauten, vor neuen Quartieren und auf Brücken. Dabei treffen drei Elemente aufeinander: der Körper, die Stadt und das Klavier. Getragen werden die Bewegungen durch die mal schnelleren, mal langsameren Klaviertöne, die wie der Wind durch die Gassen an den beiden vorbeieilen. Im Fokus stehen die sich bewegenden Körper im Raum. Das verblassende Blau und die Leere der Stadt schaffen dabei eine surreale Szenerie – als seien sie die einzigen auf dieser Welt, stellvertretend für uns.

Still aus dem Film Closer | © Tom McKenzie
Eine verlassene Haltestelle der Bahn | © Tom McKenzie
Still aus dem Film Closer | © Tom McKenzie
Maria Kochetkova und Sebastian Kloborg tanzen den pas de deux | © Tom McKenzie

Unschuldig und nicht wertend rahmen Bauten und Landschaften die Tanzenden ein – entfalten dabei ihre Schönheit, indem sie durch die Bewegungen zu neuartigen Bühnenräumen werden. Was bis vor Kurzem für uns noch eine Selbstverständlichkeit darstellte, wird plötzlich zum Sehnsuchtsort. Der Tanz löst sich aus dem Theater und tritt nach außen – dorthin, wo jeden Tag aufs Neue Aushandlungen geschehen. Was bisher als Transit- und Konsumort ausgenutzt wurde, wird zu einer Kulisse umgeschrieben. Vielleicht gibt uns diese Pandemie die Chance, nicht nur die Möglichkeiten des Tanzes weiter zu entwickeln, sondern auch den öffentlichen Raum neu zu entdecken. Denn welche Kulisse eignet sich besser, als die unserer Städte? „Closer“ gelingt diese Transformation und lindert damit für einen Augenblick unsere Sehnsucht – ja, gibt uns vielleicht sogar etwas Hoffnung?

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Closer
Choreografie: Benjamin Millepied
Musik: Philip Glass – „Mad Rush“
Tanz: Maria Kochetkova, Sebastian Kloborg
Klavier: Alexander McKenzie
Kinematografie: Tom McKenzie